Interessant, wie sich die Sicht auf Dinge verändert, wenn man mit Abstand wieder auf sie drauf schaut. Tel Aviv im Sommer 2023: mein 3. Aufenthalt innerhalb von 12 Monaten. Ja, nach wie vor liebe ich dieses Land, die Kultur, die Sinnlichkeit und das Savoir-Vivre der Israelis. Und gleichzeitig erkenne ich immer mehr, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.
Ich hatte, das ist mir jetzt klar, im letzten Jahr sehr viel Glück mit meinen Airbnb-Unterbringungen. Meine derzeitige Vermieterin, eine junge Frau, die ich über eine facebook-Gruppe kennengelernt habe, verschweigt mir, dass ihr Schlafzimmer ein fensterloser Schutzraum ist. Gut, es stimmt nicht ganz – es gibt ein Fenster, das jedoch in den Hausflur führt und den Blick der Nachbarn auf mein Bett freigibt, wenn ich die gepanzerte Lade öffne…. Kurzum: kein Tageslicht, keine Frischluft! Stattdessen Bunker-Flair für Anfänger. Für 6 Wochen! Ich schreibe meiner Vermieterin, dass ich enttäuscht bin und sie mir das hätte mitteilen müssen. Und ich bitte sie um einen Price-Off. Sie zeigt sich unbeeindruckt und kommt mir gerade mal mit 50€ für den gesamten Zeitraum entgegen. Wie war das noch? Ach ja, Tel Aviv ist eine der teuersten Städte der Welt.
Ich fange an, mich umzuhören, besichtige Wohnungen und WG-Zimmer und komme mit den einzelnen Vermieterinnen ins Gespräch. Und zum ersten Mal spüre ich den enormen finanziellen Druck. Denn eine 40-qm-Wohnung in einem Haus mit räudigem Treppenhaus und bedrückender Atmosphäre kostet monatlich 1600€. Ein finanzieller Überlebenskampf. Und trotzdem wird das Leben hier eingeatmet und in vollen Zügen gelebt und gefeiert. Denn wer weiß schon, was morgen ist?!
Ich komme nach Hause in meine laute, etwas in die Jahre gekommene Tel Aviver Wohnung im 5. Stock und freue mich, dass mein Hauptraum, in dem ich koche, arbeite und entspanne, knall hell ist und ich in den Himmel und über die Dächer schaue. Selbst meine abendliche Räuberhöhle erscheint mir nicht mehr so bedrohlich. Was für ein Perspektivwechsel.
Ich schaue neu und mit mehr Demut auf mein Leben und auf das, was ich bereits habe. Denn nichts ist so, wie es scheint, und manchmal scheint alles nichts zu sein.
Carpe Diem!