KOLLISION

Ich bin mit dem Fahrrad auf einem leicht abschüssigen Radweg unterwegs, als ein Fahrzeug mit Karacho aus der Seitenstraße rauscht und mir die Vorfahrt nimmt. Da ich ordentlich Tempo drauf habe, und bremsen nicht mehr möglich ist, versuche ich meinen schweren Drahtesel um den Wagen herum zu navigieren, um das Schlimmste zu vermeiden. Vor Wut schlage ich beim Vorbeifahren mit der flachen Hand auf die Heckscheibe des Übeltäters und radle weiter. Bis ich plötzlich eine männliche Stimme neben mir schreien höre: “Du Schlampe, dich krieg ich”…

Der Fahrer des GTIs, der langsam neben mir her rollt, hat sein Fenster heruntergelassen und richtet seinen Zeigefinger bedrohlich in meine Richtung. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich fange an mich innerlich zu rechtfertigen. Aber noch ehe ich mich verteidigen kann, düst das Fahrzeug davon – um 300 Meter vor mir auf einem Seitenstreifen anzuhalten. Der Fahrer steigt aus und rennt, wie von einer Tarantel gestochen, in meine Richtung.

“Was sollte das”, schreit er mich an und fuchtelt wild mit seinen Armen – als ob er jeden Moment zuschlagen will. “Du bist tot, du Schlampe”. Mein Mund ist ganz trocken und ich stammle: “Ich hatte Angst. Du hast mir die Vorfahrt genommen – ich wär‘ dir fast in deine Karre gerast. Dann würde ich jetzt aber im Krankenwagen liegen!” Der Angreifer dreht sich um, steigt wieder in seinen Wagen und braust davon.

Mit zittrigen Beinen, wie nach einem Unfall, fahre ich langsam weiter. Stille Tränen laufen mir über die Wangen, denn es fühlt sich für einen kleinen Moment so an, als wäre ich einer Hinrichtung entkommen. Doch je weiter ich radle, desto klarer wird mir, dass ich die Situation selbst verursacht habe.

Wir tun manchmal Dinge im Affekt – aus Angst, oder weil wir uns nicht gesehen/ beachtet fühlen – und wundern uns dann, wenn scharf geschossen wird. Natürlich wollte ich dem GTI-Fahrer signalisieren “hey, du hast was falsch gemacht”, aber durch meine übergriffige Handlung habe ich bei ihm nur Wut und Aggressionen ausgelöst – und mich dadurch zusätzlich in Gefahr gebracht.

Die Verantwortung für die eigene Unvollkommenheit zu übernehmen, ist ein innerer Prozess. Und zuzugeben etwas falsch gemacht zu haben, wo doch vorher eine offensichtliche Missachtung stattgefunden hat, war für mich ein ziemlicher Kampf. Wachstum kann jedoch nur entstehen, wenn wir in die Selbstverantwortung gehen – und aus „Kollisionen“ lernen.

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