VERLETZLICHKEIT.

Ich verbringe ein Wochenende im Bergischen Land, in einem Hotel mit großem Spa-Bereich. Worauf ich mich besonders freue: Aufs Rumliegen im kuscheligen Hotelbademantel, auf Saunagänge, Whirlpool und Dampfbad und aufs dahin Schlummern auf den gemütlichen Hotelliegen.

Bevor es losgeht, will ich mich noch schnell abbrausen und öffne in der Damenumkleide die Tür zur einzigen Duschkabine. Da zischt hinter mir eine vorwurfsvolle Stimme: “ICH wollte da jetzt rein”. Da ich die Dampfwalze, die mich gerade von hinten überrollen will, nicht habe kommen sehen, weiche ich erschrocken zurück. “Da sind doch noch mehr Duschen im Saunabereich“, kommandiert die unbekannte Stimme weiter. Um meine Fassung wieder zu erlangen, setze ich mich kurz hin. “Oder geht es ganz schnell bei Ihnen?” Plärrt es weiter. Ich stehe auf und sage: “Ach, wissen Sie… darum geht’s doch gar nicht. Ich bin nur schockiert über die Art und Weise, wie Sie mit mir sprechen. Aber wahrscheinlich bin ich gerade nur sehr fragil.” Ich will die Räumlichkeiten schnell verlassen, weil mir Tränen kommen, da sagt die Dame plötzlich: “Sorry, ich bin gerade im Ausnahmezustand – mein Mann hat Krebs.” “Und ich habe kürzlich meinen Bruder verloren”, stammele ich und fange an zu weinen. Wir schauen uns zum ersten Mal in die Augen.

“Entschuldigung!”, sagt die Dame mehrfach, fängt an zu weinen und hält entsetzt die Hände vor ihren Mund. “Das tut mir so leid”, sage ich. Zwei fremde Menschen stehen sich gegenüber und empfinden tiefes Mitgefühl füreinander.

Mitgefühl bedeutet, mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und mit dem Herzen des anderen zu fühlen. Mir wird im Nachgang bewusst, wie wertvoll und “groß” dieser Moment ist. Hinter der ruppigen Oberfläche versteckt sich ein ängstlicher Mensch. Trotzdem kein Grund, mich so anzugiften – don’t shoot the messenger! Hätte ich stillschweigend und gekränkt das Spielfeld verlassen, wäre mir dieser besondere Moment entgangen. Dadurch, dass ich mich getraut habe, einer fremden Person zu sagen, dass ihr Verhalten nicht okay ist, habe ich meinem Gegenüber die Möglichkeit gegeben, ihre Wirkung zu reflektieren.

„Verletzlichkeit ist der Geburtsort von Veränderung”, sagt Brene Brown. 
Wie recht sie doch hat.

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