Ich bin auf dem Radweg unterwegs – bewusst vorsichtig und in Schrittgeschwindigkeit, bewege ich mich vorwärts. Da kommt mir ein nachlässig gekleideter, ungekämmter, etwa 65jähriger Mann entgegen. Als er auf meiner Höhe ist, schreit er mir ins Ohr: „Ihr beschissenen Fahrradfahrer, euch müsste man erschießen. Runter vom Gehweg.“
Auf so einen Frontal-Angriff bin ich nicht vorbereitet. Die vernichtende Energie, die aus allen Poren meines Gegenübers schießt, trifft mich wie eine Pistolenkugel. Doch meine innere „Jeanne d’Arc“ rüstet sich zum Gegenangriff: „Schreien Sie mich nicht an“, belle ich zurück – in der Hoffnung, dass der Angreifer von mir ablässt. Dieser legt jedoch nochmal geschätzte 10 Dezibel oben drauf. Mein Ohr schmerzt. Wie ein angeschossenes Reh schiebe ich mein Fahrrad zum Supermarkt.
Was geht wohl in einem Menschen vor, der sein Umfeld so radikal angreift, frage ich mich später? Diese Wut auf die Welt, die ich in den Augen meines Gegenübers gesehen habe, ist furchteinflößend. Ich glaube, sie steckt in abgemilderter Form in uns allen. Ich sehe sie in der Warteschlange beim Bäcker – weil es dem Kunden vor mir nicht schnell genug geht und er deshalb seine Beschimpfungen auf die Verkäuferin niederregnen lässt; wild hupend auf der Straße – weil ein Einparker den Verkehrsfluss unterbricht; oder im Restaurant – weil die Kellnerin in der Rush-Hour nicht flink genug die Rechnung anreicht und dafür mit strengem Blick und niedrigem Trinkgeld abgestraft wird.
Diese Wut, die wir unbewusst auf andere projizieren, ist ein Hinweis auf unerfüllte Bedürfnisse, die, wenn wir sie nicht „lesen“ lernen, sich im Laufe unseres Lebens immer radikaler zu Wort melden. Ich nehme mir vor, da mal genauer hinzuschauen. Damit ich nicht mit 65 auf dem Bürgersteig stehe und schreie „runter vom Gehweg“.